Neulich bei der Gartenarbeit wanderte mein Blick über den Zaun: Nachbars Katze jagte einer Ratte nach. Ui, dachte ich mir, das ist bestimmt das sichere Ende für die Ratte. Armes Vieh. Doch dann übernahm die Ratte und staubte die Katz. Mein Kind kommentierte: „Vielleicht sind jetzt beide Fänger und sie laufen einfach hintereinander.“ Fand ich eine sehr schöne Interpretation. Wie die Geschichte schließlich ausgegangen ist, konnte ich nicht mehr beobachten … das dürfen wir uns nun selbst ausmalen. Ob die Katze die Ratte … oder die Ratte die Katze … ob Leben oder Tod, es bleibt eine Geschichte mit offenem Ausgang.
So ähnlich wie mein erster Gedanke beim Schauspiel der Tiere war, verhält es sich auch in unserem menschlichen Zusammenleben. Sehr häufig, man könnte sagen, ständig, nehmen wir etwas wahr und schlussfolgern binnen Bruchteilen von Sekunden etwas daraus. Obwohl wir uns nicht darauf verlassen können, dass unsere Wahrnehmung in irgendeiner Weise objektiv sei. Der renommierte Arzt und Therapeut Gunter Schmidt schlägt vor, dass wir aus WahrNEHMUNG eigentlich gleich WahrGEBUNG machen könnten. Denn unser Erleben wird ausschließlich von innen heraus konstruiert. Quasi autonom erzeugt. Ein „Sei doch mal objektiv!“ gibt es demnach nicht.
Daher brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn wir einander nicht verstehen. Wenn immer wieder völlig unterschiedliche Konfliktpositionen aufeinanderprallen. Wenn wir doch so sehr meinen, dass das jetzt verdammt nochmal (!) so ist, aber der andere das einfach ganz anders sieht.
Die gute Nachricht ist, dass wir jeden Moment die Möglichkeit haben, unsere „Wahrgebung“ zu überprüfen, um uns dann zu entscheiden, ob diese im Moment gut für uns ist. Oder ob wir damit mehr und mehr einen Kreislauf aus destruktiven Argumenten schaffen und verhärtete Mauern bauen. Wir haben stets die Wahl, unser inneres Erleben zu gestalten und damit unsere eigene innere Welt zu färben. Ob grau, grün oder bunt – das alles ist eine Frage der Interpretation.